O edles Grün, das wurzelt in der Sonne und leuchtet in klarer Heiterkeit, im Rund des kreisenden Rades, das die Herrlichkeit des Irdischen nicht erfasst: umarmt von der Herzkraft himmlischer Geheimnisse rötest du wie das Morgenlicht und flammst wie die Sonne Glut, du Grün bist umschlossen von Liebe

Hildegard von Bingen [1]

Grün ist die Hoffnung, die Geburt und die stetige Erneuerung der Natur -wie das Erscheinen der ersten zarten Frühlingstriebe. „Leise weht ein erstes Blühn von den Lindenbäumen, und in meinen Träumen kühn, seh ich dich im Laubengrün …“ schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke und drückt damit die freudige Erwartung auf den Frühling und somit die Wiederkehr der Farben aus. Jeden Tag bescheert uns  im Frühjahr die Natur mit neuen grünen unerwarteten Geschenken: da, wie aus dem Nichts, erwachsen an allen Zweigen neue Blätter, Primeln kündigen sich selbstbewusst mit ihrem festen Blätterwerk an und Maiglöckchen strecken ihre zarten runden Köpfchen aus der Erde. Grün „steht für Neubeginn, Aufbruch und unberührte Schönheit der Natur. In allen Nuancen, von gras-über neon-bis tannengrün verbinden wir mit der Hauptfarbe der Vegetation Leben und Wachstum.“ [2]
In allen romanischen Sprachen wird das Wort Grün von „virdis“ abgeleitet, das zugleich auch für Kraft, Wachstum und Leben steht. Das germanische Farbwort „gröan“ steht für  „sprieβen, wachsen und gedeihen. Grün ist in unserem näheren Umfeld ständig präsent. Wir sehen es nämlich überall in der Natur: den Bergen, der Erde, den Bäumen und Blumen und manchmal im Meer.

Das Grün der Hoffnung

 

Man spricht mit Recht von
Hoffnungsgrün.
kein Grünes, das ich kennen lernte,
weiß also farbenfrisch zu blühn,
als Saat, die Hoffnung goldner Ernte.  

 

                                          Karl Mayer [3]

Und trotzdem wurde das Grün lange Zeit als eine wenig aufregende Farbe betrachtet. Goethe schrieb in seiner berühmten Farbenlehre : „… jener (der, der das Blau liebt) empfiehlt das Grün als Tapetenfarbe in den Wohnungen und vor allem, so sagt er, im Schlafzimmer. Er empfindet das Grün als äuβerst beruhigend « . [4]
Grün hatte zu damaligen Zeiten zwei besondere Eigenheiten. Zuerst einmal: Es war farblich unstabil. Man färbte mit frischen Blättern und der Rinde der Birke, des Apfelbaums und der Erle und mit verschiedenen Pflanzen wie Schafgarbe, Heidekraut sowie Farn, Flechten und Moos. Der Herstellungsprozess war nicht besonders arbeitsaufwendig im Vergleich zu anderen Farben: Die Wolle wurde in einer Alaunlösung vorbehandelt, damit sie die Farbe aufnehmen konnte und wurde dann stundenlang, manchmal auch tagelang im Farbwasser geköchelt. Schwierig war es dann, die Farbe zu stabilisieren. Sie verblasste nämlich schnell bei Lichteinwirkung und die Kleider bekamen somit einen ausgewaschenen Aspekt. Um ein intensiveres Grün herzustellen, bedurfte es eines zweiten Färbeprozesses. Grün wurde nicht als noble Farbe betrachtet. Es war die Farbe des einfachen Volkes.
1863 entwickelte der Chemiker Eugen Lucius einen grünen Farbstoff, den er Aldehydgrün benannte. Da die Marktchancen für grünen Farbstoff nicht sehr hoch lagen, schloss er sich mit einem französischen Seidenfärber in Lyon zusammen, der ausschließlich mit diesem Grün färbte. Auf glänzenden Stoffen wirkte Grün ausgesprochen edel, kostbar und einen Hauch geheimnisvoll. Die grüne Seide gelangte schließlich an den französischen Hof. Und als die Kaiserin Eugenie, Gemahlin Napoleons III., die zu dieser Zeit als die schönste Frau der Welt galt, eines Abends mit einem in ganz besonders grünleuchtender Seide geschnittenen Kleid in der Pariser Oper erschien, da wurde Grün zur sensationellen Modefarbe. Von da an befand sich die Firma Meister, Lucius und Brüning auf einer grünen Welle und das Unternehmen entwickelte sich zu den bekannten und einflussreichen Hoechst Werken.
Und die zweite besondere Eigenheit des Grüns war, dass es hochgiftig sein konnte. Als Malerfarbe wurde Grün zur Farbe des Giftes. Das schönste Grün, dass man früher kannte, war ein Smaragdgrün. Man nannte es auch Schweinfurter Grün oder Französisches Grün. Dieses Grün wurde aus Kupfer-Grünspan, der in Arsen gelöst war, hergestellt. Grünspan ist giftig. Arsen ist eines der stärksten Gifte überhaupt. Fast alle grünen Lacke, Ölfarben, Wasserfarben und die intensiv grünen Textilfarben enthielten Arsen. Diese Produkte waren nicht nur während der Herstellung und Verarbeitung der grünen Farbstoffe stark gesundheitsgefährdend. Auch danach noch blieben sie gefährlich, da sich das Gift bei Hautkontakt und feuchten Untergründen löste und Arsendämpfe entwickelte.
Das Grün sollte auch Napoleon zum Verhängnis werden. Es war seine Lieblingsfarbe und das Zimmer, in dem er sich während seiner Verbannung auf der Insel St. Helena aufhielt, war mit der giftigen grünen Malerfarbe gestrichen. Arsen löste sich in dem feuchten Klima der Insel von den Wänden. Er starb somit langsam an einer Arsenvergiftung.

Aufgrund ihrer Instabilität symbolisierte die Farbe das Unbeständige, das Schicksal, das Glücksspiel. In der feudalen Welt wurden Duelle auf grünen Wiesenflächen ausgetragen. Jongleure, Jäger und Narren trugen grün. In den Venezianischen Casinos legte man seine Karten ab dem 16. Jahrhundert auf grüne Teppiche und ab dem 17. Jahrhundert auch an den Königshöfen in Frankreich. Überall setzte man sein Geld, seine Karten und seine Chips auf grüne Unterlagen. Und auch heute noch sind Fuβball-und Tennisplätze sowie Tischtennistische in grüner Farbe.
Grün repräsentiert sowohl das Glück und Reichtum als auch das Unglück und die Armut. Im Laufe der Zeit hat sich die negative Konnotation durchgesetzt. Aufgrund seiner Ambiguität hat das Grün immer eine beunruhigende Wirkung auf die Menschen in unserer westlichen Welt gehabt: Dämonen und böse Geister, Drachen und Schlangen und andere böse Kreaturen, die zwischen den Welten umherirren, sind grünlich oder gelb, die Farben des Giftigen. Würde man einen Europäer oder eine Europäerin nach der Farbe eines Drachen fragen, so bekäme man höchstwahrscheinlich als Antwort: „Grün“! Obwohl doch noch nie jemand einen gesehen hat. Und dämonische Wesen haben in unserer Phantasiewelt grüne Augen. Die grünen Marsmännchen, die uns Erdbewohnern nichts Gutes wollen, haben die bösen Dämonen des Mittelalters abgelöst. Juweliere wissen heute, dass sich Smaragd-Edelsteine schlechter verkaufen als andere Steine, da sie den Ruf haben, Unglück zu bringen. Französische Schauspieler weigern sich, Grün auf der Bühne zu tragen, weil Moliere, als er gestorben war, ein grünes Kleidungsstück getragen hatte. Und Bücher in grünen Einbänden werden schlechter verkauft als in anderen Farben. Dieser Aberglaube kommt aus einer Zeit, wo Grün noch eine instabile und hochgiftige Farbe war.
Trotzdem wurde die grüne Farbe im 19. Jahrhundert aufgewertet, seitdem man sie nämlich mit der Natur in Verbindung gebracht hatte. Und das haben wir den Romantikern zu verdanken. Unsere Vorfahren hatten bis ins 18. Jahrhundert die Natur über die vier Elemente Wasser, Luft, Erde und Feuer definiert.

Das Grün der Vegetation ist die Farbe der Ökologie und Sauberkeit geworden. In Deutschland wurde ab 1980 das Grün zu einer politischen Farbe, als die Partei der „Grünen » gegründet wurde. Die Namensgebung verwies auf die Farbe der Natur, auf Umweltschutz. Das Bewusstsein der Menschen für Nachhaltigkeit und „grüne Themen“ ist dank dieser Partei daher auch stark gestiegen. Daraus ziehen inzwischen auch viele Firmen und die Werbebranche ihren Nutzen. Sie verkaufen die unterschiedlichsten Produkte mit einem „sauberen“ grünen Image und wollen damit Natur, Modernität und Nachhaltigkeit suggerieren. Denn viele Menschen verbinden „grün“ mit verantwortungsvollem und respektvollem Handeln gegenüber der Natur. Selbst Banken geben sich gerne einen lind-grünen Anstrich um ihren Ruf aufzupolieren. Internationale Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace haben sich für das Grün in ihrem Logo entschieden.
Grün hat heute außerdem eine sehr funktionale Bedeutung. Verkehrsampeln spielen eine groβe Rolle im modernen Leben und die symbolische Bedeutung des freien Durchgangs hat sich auch in anderen Bereichen festgesetzt. In Gebäuden signalisieren grüne Schilder freien Durchgang. Überall sind Notausgänge, die frei bleiben müssen, grün beleuchtet, Rettungswege sind mit weiβen Pfeilen auf grünem Grund gekennzeichnet, und die meisten Rettungszeichen sind viereckig, mit weiβen Symbolen auf grünem Grund.
Grün ist auch die Farbe der Unreife. Der Reifeprozess in der Natur kann viele Farbstufen durchlaufen : von Grün bis Gelb nach Rot wie bei Kirschen und Erdbeeren, von Grün nach Rot bis Blau und Schwarz bei Heidelbeeren und Pflaumen ; aus grünen Knospen werden Blüten verschiedenster Farben. Aber es gibt keine Pflanze, keine Blüte, bei der der Prozess in umgekehrter Farbfolge abläuft – das Stadium der Unreife ist immer Grün. Und deswegen ist diese Erfahrung auch auf andere Bereiche übertragen worden. Grün ist die Farbe der Jugend: ein „grüner Junge“ ist einer, dessen Ansichten so unreif sind wie grünes Obst. „Ein Grünschnabel“ ist ein junger Mensch mit wenig Lebenserfahrung. Der Ausdruck kommt aus der Tierwelt. Der Schnabel junger Vögel ist mit einer grünen Haut überzogen.

Im Islam ist das Grün eine heilige Farbe. Es war die Lieblingsfarbe des Propheten Mohammed. Er trug einen grünen Turban und einen grünen Mantel. Die kostbare Reliquie des Islam ist der Sandschak-i-Scherif, das heilige Banner, es ist grün, mit Gold bestickt. Es ist die Fahne, mit der der Prophet in den Krieg zog und schlieβlich Mekka eroberte. In den Moscheen leuchten viele Ornamente in unterschiedlichen Nuancen der Farbe Grün. Bei den Wüstenvölkern war grün auch gleichbedeutend für blühende Landschaften, Reichtum, materielles Wohl und geistiges Heil. Man denke dabei an die lebenswichtigen Oasen in der Wüste. Und Grün befindet sich auch in den Flaggen zahlreicher islamischer Staaten.
In China werden Drachen traditionell in Grün dargestellt. Sie symbolisieren die göttliche Macht der Umwandlung und der übernatürlichen Weisheit.
Im indischen System der Chakras  [5] nimmt das Grün die fünfte Stellung ein. Man nennt es auch das Herzchakra. Es symbolisiert unter anderem Selbstlosigkeit, Liebe, Toleranz, Hingabe, Mitgefühl und Heilung. Es repräsentiert die Fähigkeit, Schönheit in Natur und Kunst wahrnehmen zu können. Es versorgt Herz, Lunge und Kreislauf und stärkt das Immunsystem.

Der Maler und Kunstpädagoge Johannes Itten [6] entwickelte während seiner Lehrtätigkeit von 1919 bis 1923 im Bauhaus Weimar die Grundlagen seiner Farbtheorie. Er interessierte sich vor allem für die Interaktion und der daraus resultierenden Kontraste der zwölf Farben, die er in einem Farbkreis angeordnet hatte. Seine Grundidee war, dass alle Farben aus nur drei Grundfarben gemischt werden können.
Die Farbe Grün zählt zu den kalten Farben und ist die Komplementärfarbe zu Rot. Komplementärfarben sind die Farben mit den größten Gegensätzen und sie liegen sich im Farbkreis gegenüber. Werden diese gemeinsam gewählt wie z. B. Grün und Rot, dann verstärken sich diese beiden Farben in ihrer optischen Wirkung gegenseitig. Es entsteht der so genannte Komplementärkontrast.
Primärfarben sind Grundfarben, aus denen sich alle anderen Farben mischen lassen. Sekundärfarben entstehen durch eine Mischung zweier Farben. Grün ist die Verbindung zwischen einer warmen und einer kalten Farbe, Rot und Blau, was dieser Farbe eine gewisse Komplexität verleiht.
Zur weiteren Lektüre über die Bedeutung der Farben empfehle ich das Buch von Eva Heller, Wie Farben wirken (genauere Angaben in der Bibliographie).

i[1] Quelle : hier (abgerufen am 23.2.2024)
[2] Behr, Annette, Hommage an die Farbe der Hoffnung, unter: hier (abgerufen am 8.2.2024)
[3] Quelle: hier (abgerufen am 12.4.2024)
[4] Zitiert von : Pastoureau, Michel, Simonet, DominiqueLe Petit Livre des couleurs, Editions du Panama, Paris, 2005, Seite 64
[5]« Die Chakren-Lehre beschreibt ein allumfassendes Energie-System. Jedes einzelne Chakra gilt als Energiezentrum, das eine Verbindung zwischen Körper, Geist und Umwelt schafft – quasi ein Portal zwischen der inneren und äußeren Welt. Der Begriff « Chakra » stammt aus dem Sanskrit und bedeutet übersetzt „Rad“.
[6] Farbkreis nach Itten, unter : hier (abgerufen am 9.2.2024)

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