Im Herzen der Natur

„Nichts in der Natur lebt nur für sich selbst. Die Flüsse trinken nicht ihr eigenes Wasser. Die Bäume essen nicht ihre Früchte. Die Sonne scheint nicht nur für sich selbst. Füreinander zu leben ist das Gesetz der Natur“

Autor unbekannt [1]

Ich habe dem Kapitel Natur einen ganz besonderen Platz eingeräumt. Seit meiner Geburt habe ich immer nahe der Natur gelebt und mit meinen Eltern sind wir regelmäβig in den naheliegenden Wäldern spazieren gegangen. Meine schönsten Kindheitserinnerungen sind mit der Natur verbunden und vor allem den Sommerferien bei meiner Groβmutter, die auf einem Bauernhof in Oberbayern, direkt neben einem Fluss, der Alz, gelebt hatte. Erlebnisse mit und in der Natur ziehen sich wie ein roter Leitfaden durch mein ganzes Leben. Sie ist mir eine treue Begleiterin, wenn ich nach Lösungen für komplizierte Probleme suche, neue Energien auftanken muss, Ängste und Stress beruhigen möchte und ich hege eine tiefe Ehrfurcht für ihre unermessliche Schönheit, Kraft, Großzügigkeit und Vielfalt. Außerdem ist sie eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für kreatives Arbeiten.

Die Blumen öffnen ihre Kelche

und befreien den Duft der Erde.

Ein Windhauch flüstert leise

und trägt den Klang der Natur.

Rainer Maria Rilke [2]

Wir Menschen sind ein integrativer Teil dieser uns umgebenden wunderbaren Natur, die heute unsere ganze Aufmerksamkeit und Obhut braucht, um weiter so facettenreich existieren zu können, wie wir sie kennen und lieben. Warum haben wir diese starken Gefühle für die Natur? Michel le Van Quyen, ein bekannter französischer Neurowissenschaftler, spricht in seinem Buch « Cerveau et nature » von der Theorie der Biophilie und vor allem von der positiven Wirkung der Natur auf die Gemüter der Menschen. Während Millionen von Jahren hat sich unser Gehirn synchron mit der Natur entwickelt. Wir lieben die Natur, denn sie hat uns lange Zeit das Überleben ermöglicht. Das erklärt den enormen Einfluss, den verschiedene Elemente auf uns haben, die uns seit unserem Bestehen als Mensch begleiten : die Präsenz von Wasser, die Stille, die Möglichkeit sich in einem Raum ausbreiten zu können, der Wechsel von Tag und Nacht, Wälder und Berge, die prächtigen Farben von Pflanzen. Auch unser ästhetischer Sinn wurde seit Menschengedenken geprägt und inspiriert von unserer natürlichen Umgebung, was die Höhlenmalerei von den Grotten in Lascaux, Chauvet und Cosquet zeigen. Diese ersten künstlerischen von Menschen angefertigten Werke zeigen, dass die Natur sich regelrecht in unseren Körper eingeschrieben hat und von Anbeginn nicht nur unsere rein materiellen Bedürfnisse befriedigte sondern auch unsere Suche nach kognitiver, spiritueller und ästhetischer Nahrung stets begleitete. 

Beispiele von dem feinen Zusammenspiel zwischen Menschen und Natur gibt es unzählige und sie werden heute ständig neu erforscht und beleuchtet. Zum Beispiel produziert unser Gehirn das Schlafhormon Melatonin sobald die Dunkelheit aufkommt, damit wir in einen Ruhemodus kommen und schlafen können. Beim ersten Sonnenstrahl wird diese Produktion eingestellt und unser Körper stellt massiv Cortisol zur Verfügung, damit wir wieder aufwachen. Das natürliche Licht hat also einen großen Einfluss auf unser Gehirn. Unsere Augen haben anscheinend nicht nur die Funktion Bilder zu sehen. Michel Le Van Quyen zitiert die Forschungsresultate des Biologen Gilles Vandewalle, [3] der aufgezeigt hat, dass einige Fotorezeptoren (zwischen drei und fünf Prozent) auf unserer Netzhaut keine Bilder in unserem Gehirn produzieren. Sie sind verbunden mit sehr tiefliegenden Bereichen in unserem Gehirn, die die sogenannten nicht visuellen Funktionen koordinieren. Dort werden die Zellen eine winzige Region stimulieren, die nicht grösser als ein Nadelkopf ist, und die im Zentrum des Gehirns liegt. Man nennt sie den suprachiasmatischen Kern. Er orchestriert die Sekretion verschiedener Hormone, wenn das Tageslicht erscheint. Dieser kleine Kern ist ein regelrechtes biologisches Metronom, das die gesamte Physiologie des Körpers in einem 24- Stunden- Takt reguliert. Man nennt ihn auch den circadianen Rhythmus oder die innere Uhr. Unsere tägliche Körperroutine steht unter seinem Einfluss, vom Hungergefühl über Müdigkeit bis hin zu Energieschüben. Die Macht dieses Kerns hängt zusammen mit dem Hormon Melatonin. Wie oben erwähnt, signalisiert es unserem Körper, dass die Nacht kommt und wir unsere Wachsamkeit herunterfahren können. Und wenn das erste Tageslicht erscheint, wird der suprachiasmatische Kern die Zwirbeldrüse in ihrer Aktivität hemmen. Sie ist das zentrale Organ dieser Kerne. Und genau in diesem Moment fangen auch die Vögel an zu zwitschern. Ist das nicht eine unglaubliche Synchronizität? Und über allem thront die Sonne, die Licht spendet und den biologischen circadianen Rhythmus bestimmt.

Viele Studien bestätigen außerdem den positiven Effekt beim Anblick von Grün auf unsere Gesundheit und Konzentrationsfähigkeit. Michel Le Van Quyen führt dazu das Beispiel einer Studie an, die 2015 in Barcelona mit 2600 Schülern zwischen 7 und 10 Jahren durchgeführt wurde. Ein Jahr lang haben die Wissenschaftler die Auswirkungen studiert, die der tägliche Kontakt mit Grünflächen auf die Kinder hatte. Sie haben festgellt, dass sich das Erinnerungsvermögen und die Konzentrationsfähigkeit bedeutend verbessert haben. Die Autoren der Studie schrieben in ihre Schlussfolgerung: „Die natürliche Umgebung bietet den Kindern einzigartige Lernmöglichkeiten sei es, was das Engagement, die Risikobereitschaft, Entdeckungslust, Kreativität, Ambiguitätstoleranz oder Selbstvertrauen betreffen. Sie inspiriert zahlreiche emotionale Zustände und verbessert psychologische Fähigkeiten, die positive Auswirkungen auf verschiedene Aspekte der kognitiven Entwicklung haben.“ [4]

Über das kreative Arbeiten kann dies Verbindung auf metaphorischer Ebene bewusst und erlebbar gemacht werden. Auch wenn sich die Wissenschaftler einig darin sind, dass die positiven Auswirkungen einer physischen Immersion in das Element Natur keiner virtuellen gleichkommen kann.
Für die Kanadierin Anne-Marie Jobin [5], die die Methode des Neuen Kreativen Tagesbuchs entwickelt hat, ist die Natur ein wichtiger Zugang zu unserem Innenleben. Wir sind nicht getrennt von der Natur, wir sind aus dieser Erde hervorgegangen und sind aus denselben Elementen wie alles Lebendige auf diesem Planeten gemacht. Wir fühlen uns manchmal getrennt von uns selbst, wissen nicht mehr so genau wer wir eigentlich sind. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass wir abgetrennt sind von unseren eigenen Rhythmen und unserer biologischen Natur. Die Tatsache mehr Natur in unser Kreatives Tagebuch zu bringen, erlaubt es uns, unseren Platz in diesem Zyklus des Lebens und in dieser Welt wieder zu finden. Das Tagebuch kann ein Mittel sein, sich wieder mit der Natur kurzzuschließen und ihre Botschaften wahrzunehmen. Diese Verbindung kann mit sehr einfachen Mitteln hergestellt werden: Collagen, einfachen Zeichnungen, schreiben beim Betrachten des Regens oder beim Lauschen des Vogelgezwitschers.

Der Dichter Rainer Maria Rilke hat die Wirkung der Natur auf unsere Psyche, wenn wir sie, und sei es auch nur das kleinste darin existierende Element, bewusst wahrnehmen in seinem Buch Brief an einen jungen Dichter wunderbar beschrieben: „Wenn Sie sich an die Natur halten, an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so unversehens zum Großen und Unermesslichen werden kann; wenn Sie diese Liebe haben zu dem Geringen und ganz schlicht als Dienender das  Vertrauen dessen zu gewinnen suchen, was arm scheint: dann wird Ihnen alles leichter, einheitlicher und irgendwie versöhnender werden, nicht im Verstand vielleicht, der staunend zurückbleibt , aber in Ihrem innersten Bewusstsein, Wach-sein und Wissen.“ [6]  
Wir können im Unterricht über Symbole und Metaphern eine Verbindung mit der Natur herstellen, wenn wir uns nicht direkt in ihr befinden können. Und vielleicht nehmen die Lernenden anschließend die sie umgebende Natur bewusster wahr, entwickeln langsam ein innigeres Gefühl zu ihr.

Arbeit mit Symbolen und Metaphern

Das Symbol ist etwas Materielles (ein Objekt, eine Form, eine Farbe, ein Bild, usw.), das etwas Immaterielles darstellt (eine Idee, einen Glaubenssatz, eine Emotion, eine Absicht, etc.) mithilfe der Assoziation. Es ist ein Sinnbild, das für etwas steht, was nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit dem Zeichen steht. Der Baum zum Beispiel ist ein Symbol für das Leben. Wir stellen diesen Sinneszusammenhang her, weil wir es irgendwann einmal gelernt haben. Ein Symbol ist also wie eine Brücke zwischen dem unsichtbaren Verstand und der sichtbaren Materie. Deshalb ist es ein wunderbarer Zugang zu unserem Innenleben. Für den Schriftsteller und Philosophen Eric de Rus [7] ist ein Symbol nicht nur ein Zeichen, das für etwas steht, was abwesend ist sondern auch ein Zeichen, das etwas Abwesendes wieder präsent macht und sich als inneres Bild in einem Menschen ausbreiten und agieren kann. Über innere Bilder können wir also einen Kontakt zur Natur herstellen, auch wenn sie nicht direkt präsent ist.

Im Neuen Kreativen Tagebuch arbeiten wir direkt mit der Welt der Symbole unter Zuhilfenahme der visuellen Künste. Wir schaffen außerdem Metaphern zwischen dem, was in unserem Innenleben passiert und die Art und Weise, wie wir es auf dem Papier über Formen, Farben, Papiersorten und Bildern sichtbar machen. Die Metapher ist ein Stilmittel, mit dem wir einen eigentlich gemeinten Begriff durch einen anderen sprachlichen Ausdruck ersetzen. Wir beschreiben etwas und stellen dabei gleichzeitig einen bildlichen Vergleich her. Das neu entstandene Bild bietet einen weiten Raum der kreativen Ausschöpfung und kann uns letztendlich zu einem tieferen Verständnis unserer selbst führen. Wenn ich zum Beispiel sage, „mein Leben gleicht einer blühenden Blumenwiese“ dann verwende ich das Bild der blühenden Blumenwiese, um mein Leben zu beschreiben. Es tauchen vielleicht Bilder von farbigen Blumen, Gräsern, kleinen Insekten, der Sonne etc. auf. Das gibt uns einen größeren Erforschungsspielraum als zum Beispiel einfach nur zu sagen „ich bin zufrieden im Leben“. Wir vollziehen eine sprachliche Bedeutungsübertragung, die ihren Platz auch in den kreativen schriftlichen Aktivitäten finden wird, wie zum Beispiel mit der Verwendung einer poetischen Sprache, fiktiven Figuren, Allegorien oder komplexeren Geschichten.
In den hier vorgestellten kreativen Übungen werden wir uns unserer Verbindung zur Natur widmen, der ihr innewohnenden Weisheit nachspüren und in ihr Inspiration und vielleicht  -einen größeren inneren Frieden finden.


[1] Coehlo, Paul, Die Schriften von Acra, Diogenes Verlag, Zürich, 2013
[2] Quelle: Hier (abgerufen am 20.5.2024)
[3] Le Van Quyen, Michel, Cerveau et nature, Flammarion, Paris, 2022, Seite 109-110
[4] Frei übersetzt nach Le Van Quyen, Michel, Cerveau et nature, Flammarion, Paris, 2022, Seite 56
[5] Jobin, Anne-Marie, Le nouveau journal créatif, Les Editions de l’Homme, Montréal, Seite 57
[6] Rilke, Rainer-Maria, Briefe an einen jungen Dichter, Insel Verlag, Frankfurt, 1997, Seite 21
[7] Definition, die der Philosoph in einem Interview mit Fabrice Midal in der Reihe „Dialogues“-Dialogue entre un hypersensible et un autiste gegeben hat, unter: Hier (abgerufen am 20.5.2024)

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