Metaphorischer Reichtum von Landschaften
„Erinnere dich an die Erde, deren Haut du bist: Rote Erde, schwarze Erde, gelbe Erde, weiße Erde, braune Erde, wir sind Erde.“
Joy Harjo



In diesem Kapitel werden wir fünf archetypische Landschaften näher betrachten und mit den Techniken der Methode des Neuen Kreativen Tagebuchs erforschen: Wüsten, Wälder, Ozeane und Flüsse, Berge und Wiesen. „Archetypen sind die im kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, wobei vor allem elementare Erfahrungen wie Geburt, Ehe, Mutterschaft, Trennung und Tod in der Seele der Menschen eine archetypische Verankerung besitzen Sie haben zu allen Zeiten und in den unterschiedlichsten Kulturen ähnliche Bilder hervorgebracht und können als kollektive Menschheitserfahrungen gelten.“ [1] Archetypen sind universell. Das heißt, dass sie in allen Kulturen, Religionen und Teilen der Geschichte auftreten. Der Arzt und Psychiater Carl Gustav Jung stellte die Theorie auf, dass viele dieser Ideen angeboren sind und aus unserem „kollektiven Unbewussten“ stammen, das aus frühen menschlichen Erfahrungen stammt, die unsere Spezies seit unseren Anfängen begleitet haben. Und das gilt auch für Landschaften.
Ziehende Landschaft
Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unserer Mutter.
Hilde Domin
Metaphorischer Reichtum von Landschaften
Mary Raynolds Thompson nennt sie in ihrem Buch Reclaiming the wild soul[2], Seelenlandschaften. Sie sind die Verschmelzung von innerer und äußerer Natur, die Begegnung zwischen der Erde und uns selbst. Wenn wir in die Tiefen dieser Seelenlandschaften eintauchen, dann werden wir Metaphern derselben begegnen, die uns Wegweiser zu unserer eigenen innewohnenden Weisheit und Kraft werden können. Menschen sind letztendlich nicht auf diese Erde von irgendwoher hineingesetzt worden. Wir sind dieser Erde entsprungen, jeden Tag konsumieren wir etwas von dieser Erde um überleben zu können. Die großen Landschaften dieser Erde sind unsere Vorfahren. Sie sind aus ihr hervorgegangen wie wir Menschen auch. Ihre Energie ruft bei uns tiefe Gefühle und Potentialitäten sowohl auf einem bewussten als auch unbewussten Niveau hervor. Michel Le Van Quyen unterstreicht in seinem Buch Cerveau et nature , dass alle Erfahrungen, die wir in der Natur machen, wie ein Waldbad nehmen, das Meer betrachten, sich auf dem Wasser treiben lassen, die ersten Sonnenstrahlen bewundern etc. – auch wenn diese Situationen „ das Gehirn unterschiedlich beeinflussen – , uns in die Morgendämmerung der Menschheit zurückbringen, in eine Zeit, in der wir eins mit den natürlichen Elementen waren. Dies ist der grundlegende Grund, warum wir aus diesen Erfahrungen so viel Nutzen ziehen können.“ [3] Die Frage, wie weit wir uns von der Natur inzwischen entfernt haben, beschäftigt viele Menschen heute. Wir werden immer wieder ermutigt, mehr Zeit draußen zu verbringen, spazieren zu gehen, im Garten zu arbeiten, dem Element Natur wieder bewusst einen Platz in unserem Leben einzuräumen.
Gemäß Mary Reynolds Thompson[4] hat jede Seelenlandschaft eine bestimmte metaphorische Bedeutung. Ich möchte diese ganz kurz vorstellen, da sie ein Leitfaden sein können, wenn wir uns mit den verschiedenen Landschaften beschäftigen. Sie ermöglichen, neue Sichtweisen einzunehmen, um unser Verständnis derselben zu vertiefen. Natürlich muss man dem nicht zustimmen, um die entsprechenden kreativen Aktivitäten durchzuführen. Wenn Ihnen das zu abgehoben erscheint, dann einfach überlesen.
Wüsten lehren uns, dass sich alles ständig verändert. Die Winde Khamsin, Scirocco und Simoom bilden immer wieder neue überraschende Formen in der Landschaft. Inneres Bewusstsein und Stärke verhelfen uns im Leben, uns stets zu erneuern, von dem Alten zu trennen und uns dem Neuen mit Mut und Zuversicht hinzuwenden.
Im dunklen Wald, weit entfernt von tröstlichen Wegweisern, lernen wir im Ungewissen zu leben. Wir sind weniger sicher, aber wir sind lebendiger. Zwischen Licht und Schatten, Erde und Himmel gehen wir den weglosen Weg und entdecken unsere einzigartige Kreativität, Weisheit und unseren eigenen Lebensrhythmus. Wir erfahren einen tieferen Sinn in unserem Dasein.
Die Gewässer der Welt formieren die Topographie der Erde, der Fluss unserer Sehnsüchte gibt unserem Leben eine Richtung. Wenn wir lernen, aus den Tiefen unseres Seins heraus zu leben, dann entdecken wir die emotionale Vitalität, die uns innewohnt, und verlassen die seichten Gewässer unseres oberflächlichen Verlangens und Strebens nach Sensationellem und wenden uns dem hin, was unsere Lebensfreude und Vitalität wirklich ausmacht.
Berge appellieren an die Kraft in uns, unsere Welt nach dem zu gestalten, was wir wirklich schätzen. Ohne Berge würden der Erde die Reliefs fehlen. Ohne das Bedürfnis, größere Höhen anzustreben, wäre unser Leben monoton. Wenn wir unserer vollen Lebenskraft nachspüren, stellen wir uns selbst Herausforderungen und erklimmen Berge, um innerlich zu wachsen. Gefüllt mit Risiken, Rückschlägen und Opfern geben die Berge unserem Leben eine Art „heroischen“ oder abenteuerlichen Sinn.
Eine größere Fläche Wiese ist wie eine Einladung, sich niederzulassen, Gemeinschaften zu bilden, zu feiern und der Natur zu danken. Indem wir unseren Platz in der Welt schätzen, lernen wir, eine friedfertige Beziehung zu all unseren Nachbarn aufzubauen und gemeinsam etwas nachhaltig und in tiefem Respekt mit der uns umgebenden Natur zu schaffen.
In den folgenden kreativen Aktivitäten werden wir uns jeder einzelnen Landschaft widmen.
[1] Quelle: Archetypen. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik
[2] Thompson Reynolds, Mary, Reclaiming the wild soul, Wild Roots Press, Amazon Distribution, 2019, Seite 24 der Einleitung
[3] Le Van Quyen, Michel, Cerveau et nature, Flammarion, Paris, 2022, Seite 30
[4] Thompson Reynolds, Mary, Reclaiming the wild soul, op.cit., Seite 27-28 der Einleitung