Die Weite und Tiefe des Meeres

Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer [1]

„Blau hat keine Dimensionen. […] Alle Farben bringen konkrete, materielle und greifbare Assoziationen von Ideen hervor, während das Blau höchstens an das Meer und den Himmel erinnert, was in der greifbaren und sichtbaren Natur am abstraktesten ist.“

Yves Klein [2] 

Zu Beginn dieses Kapitels lade ich Sie zu einer kleinen visuellen Reise ein. Stellen Sie sich das einmal vor: Vor Ihren Augen breitet sich das Meer bis zu einem endlosen Horizont aus. Die Grenzlinie zwischen Meer und Himmel löst sich auf und taucht je nach Wetterlage in ein tiefes Blau oder Grau ein. Die Schaumränder der Wellen huschen vorbei, einige Boote schaukeln im Wind und ein Schwarm Möwen fliegt kreischend am Himmel entlang. Feuchter Dunst streichelt unsere Wangen und wir können das laute, regelmäßige Murmeln der Wellen hören, die unaufhörlich bis zum Strand rollen. Unsere Füße spüren die sanfte Berührung der Sandkörner, wenn wir über den Strand laufen und wie in einem weichen Teppich versinken. Plötzlich verlassen uns die belastenden Gedanken des Alltags und ein Gefühl der Ruhe und Revitalisierung überkommt uns. Unmittelbar und unwiderstehlich: Der Kontakt mit dem Meer tut uns gut. Der Neurowissenschaftler Michel Le Van Quyen geht in seinem Buch „Cerveau et nature“ der Frage nach, was der Kontakt mit den Ozeanen der Welt in unserem Gehirn auslöst.

Lied vom Meer

Uraltes Wehn vom Meer,
Meerwind bei Nacht:
du kommst zu keinem her;
wenn einer wacht,
so muß er sehn, wie er
dich übersteht:
uraltes Wehn vom Meer
welches weht
nur wie für Ur-Gestein,
lauter Raum
reißend von weit herein…

O wie fühlt dich ein
treibender Feigenbaum
oben im Mondschein.

Capri. Piccola Marina

                        Rainer Maria Rilke [3] 

Zuerst einmal werden über den Geruchssinn Erinnerungen an glückliche Tage aus unserer Kindheit wachgerufen. Das geschieht über den Hypocampus. Diese Region des Gehirns hat eine ganz besondere Form. Er rollt sich nämlich um sich selbst wie ein Meerestier ein. Außerdem hat er die Funktion, Kontakte mit anderen Regionen des Gehirns aufzunehmen und sie mit Informationen zu beliefern. Der Hypocampus speichert also keine Erinnerungen, er gibt nur Impulse weiter. Er steht unter anderem in direktem Kontakt mit der Duftknolle, die erste Region im Gehirn, die mit der Interpretation und Selektion von Gerüchen zuständig ist. Über den Meeresgeruch können also bestimmte vergangene Erlebnisse am Meer wachgerufen werden.

Außerdem ist das Meer ein Synonym für Blau. Allein der Anblick des Blaus hat positive physiologische Auswirkungen auf unseren Körper. Laborversuche haben gezeigt, dass die elektrische Leitfähigkeit der Haut, wenn man einem bläulichen Licht ausgesetzt ist, nachlässt. [4] „Dieses Phänomen ist ein bekannter positiver Effekt der Entspannung, der zu einer Abnahme der Aktivität der Schweißdrüsen führt (stimuliert bei Stress durch die Aktivität des sympathischen Nervensystems).“ [5] Das wiederum führt zu einer besseren Widerstandsfähigkeit der Haut. Wissenschaftler haben des Weiteren festgestellt, dass wenn wir Blau sehen, der arterielle Druck sinkt und der Rhythmus der Atmung oder des Herzschlags langsamer wird. Das erlaubt unserem Körper in einen Ruhemodus zu kommen.

Wir können mit dem Meer aber auch rein metaphysische Erfahrungen verbinden. Der bekannte Psychoanalytiker Sigmund Freud erklärte, dass „das Bild des Meeres, das ständig von der Bewegung der Wellen und Gezeiten bewegt wird, eine zeitliche Rhythmik darstellt, die wie kein anderer ein Gefühl der Ewigkeit nährt, und zwar dort, wo die Horizontlinie zum Fluchtpunkt wird.“ [6] Diese Idee wird in dem Gemälde von Caspar David Friedrich Der Mönch am Meer sehr gut illustriert. Der Mensch ist nur ein kleiner Punkt vor dem Hintergrund der Unendlichkeit des Meeres. Und schließlich löst instinktiv der alleinige Anblick des Meeres bei uns Menschen ein Gefühl der Sicherheit aus. Auch dafür hat Michel Le Van Quyen eine neurowissenschaftliche Erklärung. Unser Gehirn ist darauf getrimmt, Gefahren in unserem Umfeld wahrzunehmen und entsprechend schnell zu reagieren. Dafür ist unter anderem die sogenannte Amygdala zuständig. Die Amygdala ist eine Gehirnstruktur, die sehr klein ist. Wir haben zwei davon, eine auf der linken Seite und eine auf der rechten Seite des Gehirns. Sie ist sehr klein und sieht aus wie eine Mandel. Amygdala ist auch das lateinische Wort für Mandel. Obwohl sie klein ist, ist die Amygdala unglaublich mächtig. Sie spielt eine sehr wichtige Rolle für unser Überleben. Immer wenn von außen eine echte Gefahr besteht, wird eine Kampf-, Flucht- oder Einfrierreaktion ausgelöst. Die Amygdala ist lebensnotwendig für unser Überleben und für viele Emotionen im Allgemeinen. In vielen Situationen jedoch wird die Amygdala auch dann aktiv, wenn keine wirkliche Gefahr besteht, wie zum Beispiel, wenn man auf der Bühne stehend, eine Präsentation halten muss oder einfach nur zu spät zur Arbeit kommt. In der Stadt wird sie ständig stimuliert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wenn wir uns aber am Meer befinden, dann legt sie ihre Waffen nieder und kann sich erholen. Instinktiv weiß unser Gehirn, dass hier keine Gefahren auf uns lauern. Das Gehirn wird sozusagen gewiegt von den regelmäßigen Geräuschen der Wellen, die es davon überzeugen, dass alles gut ist, und es sich entspannen kann. Nicht zufällig kann man heute zahlreiche Apps für Telefone finden, die das Einschlafen erleichtern sollen. Indem sie beruhigende Meeresgeräusche oder natürliche Geräusche in die Kopfhörer übertragen, erzeugen sie die Illusion einer stabilen und sicheren Umgebung. Diese Geräusche stammen manchmal von Tieren, die in der Meeresgegend leben: das Pfeifen der Delfine, das Singen der Wale, das Schreien der Möwen.

Diese ganzen kurzen Erklärungen sollen verdeutlichen, wie mächtig der positive Einfluss des Meeres auf unsere Psyche sein kann. Natürlich können wir im Unterricht nicht dieselben Bedingungen schaffen, wie wenn wir physisch eine Immersion in eine aquamarine Landschaft erleben. Aber wir können über das Gehör Bilder, Farben und unsere phantastische Vorstellungskraft davon in unseren Schul-oder Universitätsalltag holen. Deswegen schlage ich Ihnen vor, zuerst einmal das kurze Video mit den Geräuschen von Wellen als Einstieg in das Thema zu verwenden. Und vielleicht werden die Lernenden beim nächsten Besuch, den sie dem Meer abstatten werden, einfach mit ein bisschen mehr Bewusstsein das Wasser, die Wellen und das Leben der Tiere erleben und einen tiefen Respekt dafür entwickeln (wenn das nicht schon der Fall ist).


[1] Quelle: Hier (abgerufen am 12.5.2024)
[2] Frei übersetzt und zitiert von Michel Me Van Quyen in: Cerveau et nature, Flammarion, Paris, 2022, Seite 74
[3] Quelle : Hier (abgerufen am 12.5.2024)
[4] Diese Versuche werden von Michel Le Van Quyen in seinem Buch Cerveau et nature, op.cit., auf Seite 73 zitiert.
[5] Le Van Quyen, Michel, Cerveau et nature, op.cit., Seite 73
[6] Frei übersetzt und zitiert von Michel Me Van Quyen in: Cerveau et nature, op.cit., Seite 75

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