Kultische Zylinder deutscher Städte: die Lifaßsäulen

[1]

„Die Litfaßsäule, von der vielen Werbung, hat sie einen Bauch.“

Claudia Brefeld [2]

Litfaßsäulen[3] sind aus deutschen Städten gar nicht wegzudenken. Sie sind eine wahre Institution. Es handelt sich dabei um auf dem Gehweg oder auf Plätzten aufgestellte Anschlagsäulen, an die Plakate geklebt werden können.
Die Litfaßsäule wurde ursprünglich von dem Drucker Ernst Litfaß erfunden. Die Idee entstand aus dem Bestreben der damaligen Berliner Behörden in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der sich umgreifenden Wildplakatierung entgegenzuwirken. Litfaß machte dem damaligen Polizeipräsidenten von Berlin, Karl Ludwig von Hinkeldey, den Vorschlag, überall in der Stadt Säulen aufzustellen, an denen die Menschen ihre Plakate anhängen konnten.

Litfaßsäulen

Menschen sind wie Litfaßsäulen
in den Straßen einer Stadt,
kaum dass im Vorübereilen
jemand Interesse hat.

Sie stehen einsam und verlassen
mit  ihrer ganzen Weisheit da
inmitten aller Menschenmassen,
wer hört ihr ganzes Bla, Bla, Bla?

Andere sind wie Straßenschilder,
und ihre Botschaft täuscht dich nie ,
sie helfen dir, auch ohne Bilder,
und jeder sucht und achtet sie

                      Hans Gagsteiger [4]

Der Plan wurde nach jahrelangen Verhandlungen angenommen. Litfaß bekam 1854 die ausschließliche Genehmigung, seine „Annoncier-Säulen » aufzustellen. Als Gegenleistung zu dieser Monopolstellung sollte er öffentliche Toiletten bauen lassen. Die Genehmigung war außerdem mit der Auflage verbunden, dass die Behörden die neuesten Nachrichten an den Säulen publizieren konnten. Im Jahre 1865 wurden weitere 50 Säulen aufgestellt und dem Erfinder zu Ehren Litfaßsäulen genannt. Sowohl die Werbekunden als auch die Behörden erkannten schnell die Vorteile des neuen Werbemediums: Die zuerst genannten konnten sich darauf verlassen, dass ihre Plakate auch wirklich für die gesamte gemietete Zeit ohne Überklebungen zu sehen sein würden, und von staatlicher Seite war eine vorherige Zensur der Inhalte möglich. Die Säulen breiteten sich schnell nicht nur in ganz Berlin, sondern auch in anderen deutschen Städten und schließlich auf der ganzen Welt aus (die öffentlichen Toiletten lassen jedoch noch immer auf sich warten). Insgesamt gibt es 51.000 Litfaßsäulen in Deutschland und Berlin brachte es bis 2019 auf 2548 Säulen. Eine der ältesten Litfaßsäulen befindet sich in Swakopmund. Sie wurde 1905 von den Deutschen nach Namibia transportiert.

Die meisten Säulen in Berlin stammen aus der Zeit nach dem Krieg. In den ersten Nachkriegsjahren war die Stadt völlig zerstört. Die Alliierten benutzten die Säulen, um Informationen an die Bevölkerung weiterzugeben und mit der Zeit haben sich Schichten von Historie an ihren Wänden abgelagert. Die Säulen sind ein wahres Symbol für die Metropole geworden. Sie zeugen vom Leben in der Großstadt, von allem, was man hier unternehmen und kaufen kann. 
Was die Ästhetik dieser Säulen betrifft, so ist der kreativen Gestaltung keine Grenzen gesetzt: Es gibt Säulen, die eine Verzierung aus Metall haben. Andere haben die Form von Türmchen angenommen oder können aus sich heraus durch angebrachte Lämpchen leuchten. Eine besondere Eigenheit besitzen einige Säulen in Wien. Sie sind nämlich mit Türchen versehen, die man von außen nur mit Schlüssel und von innen auch ohne öffnen kann. Sie stehen im Bereich des gedeckt verlaufenden Wienflusses und überdachen die dort als Notausstieg aus der Tiefe führenden steinernen Wendeltreppen, um sie vor unbefugtem Betreten zu schützen. Sie sind berühmt geworden durch den Film „Der dritte Mann“, in dem der Kriminelle Harry Lime durch eine Litfaßsäule nach unten in einen Kanal gelangte. Die Säule war sozusagen der Eingang in die Unterwelt: „Ich rannte seinem Schatten nach. Und plötzlich war er verschwunden“, sagte jemand in dem Film. Der Satz resümiert ganz gut die jetzige Situation der Säulen. Ein Großteil soll nämlich abgebaut und durch neue ersetzt werden. Andere wiederum werden umfunktioniert und den Bedürfnissen der Zeit angepasst. In Nürnberg werden die Säulen seit 2015 als öffentliche Toiletten benutzt, die sich im Innenraum der Zylinder befinden und für eine geringe Gebühr für jedermann zugänglich sind. „In Düsseldorf wurde am 7. Oktober 2021 die erste 5G-Litfaßsäule eingeweiht. Bis Juni 2023 hatte Vodafone 50 der 600 Düsseldorfer Litfaßsäulen als Sendemasten für den 5G-Mobilfunk hergerichtet, weitere 150 sollen folgen. Die von außen nicht sichtbare Technik soll auf besonders belebten Straßen und Plätzen der Innenstadt in einem Umkreis von 400 Metern für einen « noch besseren Empfang und höhere Netz-Stabilität » sorgen.“ [5] In diese sogenannte 5G-Litfaßsäule ist eine Tür eingebaut worden, die Zugang zur Technik gewährt, aber von außen kaum zu erkennen ist. Außerdem besitzen sie eine alufarbene Haube (die als Funkmast dient), die an einen altmodischen Damenhut erinnert. In Berlin wurde im Jahr 2021 damit begonnen, 200 Litfaßsäulen zu LTE-Small-Cells umzurüsten. Sie dienen wie zuvor auch weiterhin als Werbeträger und sind nur an ihrem dunkelgrauen « Deckel » und der Tür als Funkmasten erkennbar.

Auch wenn sie aus der Mode zu geraten scheint, hat die Litfaßsäule noch nicht ihr letztes Wort gesprochen. In unserem digitalen Zeitalter ist alles Analoge wichtiger denn je geworden. Sie spiegelt eine Nostalgie für das Echte und Authentische wider. So war es auch bei den Telefonzellen und Gaslaternen. Wichtig dabei sind vielleicht nicht so sehr die Objekte selbst, sondern unsere Erinnerungen, die damit verbunden sind. Bei den Litfaßsäulen sind das bei einigen unter anderem die Schwarz-Weiß-Fotos von alten Werbeplakaten und die Kinowerbung.

Die Künstlerin Tina Zimmermann hat ein besonderes Gespür für Dinge, die verschwinden sollen und greift das als Thema künstlerisch noch einmal auf. Sie hat die leeren Säulen, die in Berlin abgerissen werden sollen, und die nun dastehen wie kahle Bäume, sogleich als potentielle Kunstobjekte entdeckt. Sie wohnt in der Nähe eines Friedhofs. Dort hat sie Sprüche gesammelt, die sie auf den Grabsteinen gelesen und in bunten Buchstaben auf Poster gedruckt hat. Diese Poster schmücken nun einige dieser dem Verschwinden geweihten Säulen in Berlin und auf ihnen sind Sätze zu lesen wie: „Gewaltig wie der Tod ist die Liebe.“ Die Menschen bleiben davor stehen, fragen sich, was das zu bedeuten hat, und beginnen sich zu unterhalten. Kurz bevor die alten Säulen in Berlin verschwinden, erfüllen sie noch einmal ihren eigentlichen Zweck: Die Leute können sich informieren und tauschen sich aus. Diese Litfaßsäulen verbinden gewissermaßen Vergangenheit und Gegenwart. Es erinnert an die Worte Walter Benjamins in seinem unvollendeten Werk bezüglich der Passagen von Paris, die sehr gut zu diesem Phänomen des Verschwindens und des gleichzeitigen letzten Aufschreiens einer Epoche passt: „Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.“

Literatur eröffnet uns immer neue Gedankenwelten und ist eine gute Vorbereitung für jegliche kreative Aktivität. Gedichte sind nämlich ebenfalls in der Welt der Metaphern und Symbole zu Hause. Deshalb rate ich Ihnen vor dem Beginn des kreativen Arbeitens, die Gedichte zu diesem Thema, die ich für Sie ausgesucht habe zu lesen und den Lernenden vorzulesen.


[1] Alle Bilder befinden sich auf Pinterest (abgerufen am 22.4.2024)
[2] Claudia Brefeld hier
[3] Das Wort Fass wird eigentlich mit « ss » geschrieben, weil man nach einem kurzen Vokal doppelte Mitlaute schreiben muss. Bei dem Wort Litfaßsäule ist das anders, weil diese Säule nach dem Herrn Ernst Litfaß benannt wurde. Und bei Eigennamen bleiben die ursprünglichen „ß“ bestehen.
[4] Hans Gagsteiger hier
[5] Quelle : Hier (abgerufen am 22.4.2024)

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