Im Zyklus der Jahreszeiten

„[…] wir haben im Grunde nur da zu sein, aber schlicht, aber inständig, wie die Erde da ist, den Jahreszeiten zustimmend, hell und dunkel und ganz im Raum, nicht verlangend in anderem aufzuruhen als in dem Netz von Einflüssen und Kräften, in dem die Sterne sich sicher fühlen.

Rainer Maria Rilke [1]

Das Rad dreht sich, ohne innezuhalten. Unser Leben folgt dem Rhythmus von ständig wiederkehrenden Zyklen: alljährliche Musikfestivals und besondere kulturelle Sommerereignisse; Konzerte und literarische Preise; im Tourismus gibt es eine Hauptsaison und eine Nachsaison; in der Landwirtschaft kennt man die Saat-und Erntezeit; die Pflanzenwelt beschert uns mit der Zeit des Bärlauchs, der Krokusse, der Sonnenblumen und des Lavendels; im Reich des Obstes und Gemüses wechseln sich  Erd-und Heidelbeeren mit den Kürbissen ab; es gibt den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter, unsere inneren Jahreszeiten und die verschiedenen Lebensabschnitte
Das Leben folgt einem immerwährenden Wechsel von Tag und Nacht, die Wochen, Monate und Jahre fließen wie ein unaufhaltsamer Strom vor sich hin. Unser Körper verändert sich im selben Rhythmus wie das gesamte Universum. Wir können die natürliche, dynamische Entwicklung der verschiedenen Jahreszeiten überall in der Natur, in den Bäumen, in den Pflanzen und Früchten nachempfinden. Die Erde ist wie der vergrößerte Körper unserer selbst, und die Natur legt die Daten im Kalender fest. Die Jahreszeiten symbolisieren und begleiten die verschiedenen Etappen des Lebens, Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt.
Diese saisonalen Veränderungen beeinflussen alle Lebewesen unserer Erde. Wir kleiden uns und essen gemäß den Jahreszeiten. Jede Jahreszeit hat ihre eigene Sprache, Energie, ihren tieferen Sinn und eine intrinsische Weisheit, die es zu entziffern gilt

Haikus zu den vier Jahreszeiten 

Ein Kirschblütenzweig
aus meines Freundes Garten schmückt
jetzt mein Zimmer.           

Rolf Boehm

Die weißen Rosen
erblüht – und ich noch immer
in Arbeitskleidung.

Sabine Sommerkamp

Leer sind die Stühle
rings um den Tisch im Garten.
Nur Blätter zu Gast.

Friedrich Rohde

Die Halbmondsichel
wetzt ihre blanke Schneide
am vereisten Turm.

Richard W. Heinrich [2]

Die Natur ist ein wichtiger Zugang zu unserem Innenleben. Sie ist eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, reich an Metaphern und Botschaften, und wenn wir ihr ganz genau zuhören, dann kann sie zu uns sprechen, uns beruhigen, beraten. Wenn wir es schaffen, auf die leise und einzigartige Musik jeder einzelnen Jahreszeit, die in uns vibriert, zu hören, dann wissen wir auch ganz genau, welche Energie wir brauchen. Jede Musik hat ihren eigenen Rhythmus, ihr eigenes Tempo, spricht ihre eigene Sprache und sendet ihre besonderen Signale aus. Sie kann sehr laut zu uns sprechen oder ganz leise flüstern. Es gibt Dinge, die sichtbar sind und solche denen wir nachspüren müssen, um sie zu erfassen. Um zu wissen, in welcher Jahreszeit wir uns befinden, wo sich unser Platz in diesem Zyklus befindet, müssen wir achtsam mit uns selbst sein. Das hilft uns, ein inneres Gleichgewicht herzustellen. Die Lehren der Natur sind sie so nahe und greifbar. Seit Menschengedenken wurde der Mensch als Teil des Kosmos gesehen. Schon der Theologe Origene sagte im 3. Jahrhundert „wundere dich nicht, wenn ich sage, dass dies alles in dir steckt; verstehe, dass du die Welt im Kleinen bist, und dass in dir eine Sonne, ein Mond und die Sterne hausen.“[3]

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Natur und kreatives Gestalten

Die Natur ist ein wichtiger Zugang zu unserem Innenleben. Sie ist eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, reich an Metaphern und Botschaften, und wenn wir ihr ganz genau zuhören, dann kann sie zu uns sprechen, uns beruhigen, beraten. Mehr Natur in unser Neues Kreatives Tagebuch zu bringen, erlaubt es uns, uns unseres Platzes in diesem Zyklus des Lebens und in dieser Welt bewusster zu werden. Das kreative Arbeiten nach der Methode des Neuen Kreativen Tagebuchs kann ein Mittel sein, sich wieder mit der Natur kurzzuschließen und ihre Botschaften aufmerksam wahrzunehmen. Diese Verbindung kann mit sehr einfachen Mitteln hergestellt werden wie zum Beispiel mit Collagen, einfachen Zeichnungen, beim Schreiben oder Betrachten der Schneeflocken oder des Regens. Wir können auch organische Materialien aus der Natur benutzen und sie in unsere Collagen integrieren so wie gepresste Blätter, getrocknete Blumen, kleine Äste, Baumrinden, Moos etc. Über unsere Sinne kommen wir direkt in eine körperliche Verbindung mit dem Element Natur und das kann eine ganze Reihe von Bildern und Assoziationen in unserem Gehirn hervorrufen. Vielleicht nehmen wir dadurch unsere natürliche Umgebung wieder bewusster wahr.

Arbeit mit Symbolen und Metaphern

Das Symbol ist etwas Materielles (ein Objekt, eine Form, eine Farbe, ein Bild, usw.), das etwas Immaterielles darstellt (eine Idee, einen Glaubenssatz, eine Emotion, eine Absicht, etc.) mithilfe der Assoziation. Es ist ein Sinnbild, das für etwas steht, was nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit dem Zeichen steht. Das Herz zum Beispiel ist das Symbol für die Liebe. Wir stellen diesen Sinnzusammenhang her, weil wir es irgendwann einmal gelernt haben. Ein Symbol ist also wie eine Brücke zwischen dem unsichtbaren Verstand und der sichtbaren Materie. Deshalb ist es ein wunderbarer Zugang zu unserem Innenleben. Im Neuen Kreativen Tagebuch arbeiten wir direkt mit der Welt der Symbole unter Zuhilfenahme der visuellen Künste.
Wir schaffen außerdem Metaphern zwischen dem, was in unserem Innenleben passiert und die Art und Weise, wie wir es auf dem Papier über Formen, Farben, Papiersorten und Bildern sichtbar machen. Die Metapher ist ein Stilmittel, mit dem wir einen eigentlich gemeinten Begriff durch einen anderen sprachlichen Ausdruck ersetzen. Wir beschreiben etwas und stellen dabei gleichzeitig einen bildlichen Vergleich her. Das neu entstandene Bild bietet einen weiten Raum der kreativen Ausschöpfung und kann uns letztendlich zu einem tieferen Verständnis unserer selbst führen. Wenn ich zum Beispiel sage, „mein Leben gleicht einer blühenden Blumenwiese“, dann verwende ich das Bild der blühenden Blumenwiese um mein Leben zu beschreiben. Es tauchen vielleicht Bilder von farbigen Blumen, Gräsern, kleinen Insekten, der Sonne auf. Das gibt uns einen größeren Erfahrungsspielraum, als zum Beispiel einfach nur zu sagen „ich bin zufrieden im Leben“. Wir vollziehen eine sprachliche Bedeutungsübertragung, die auch ihren Platz in den kreativen schriftlichen Aktivitäten hat, wie zum Beispiel mit der Verwendung einer poetischen Sprache, fiktiven Figuren, Allegorien oder komplexeren Geschichten.

Dankbarkeit üben

Dankbarkeit empfinden, Dankbarkeit üben, jeden Tag, um das Leben in seiner Einfachheit und dem Reichtum, der in dieser Einfachheit steckt zu erfassen und zu feiern. Dies zu tun, ist eine Entscheidung, die wir treffen können. Wir öffnen uns für das, was ist und nehmen es erst einmal so wahr, wie es ist, ohne zu urteilen. Dankbarkeit ist eine Haltung, die wir einnehmen können gegenüber dem Leben. Wenn man es tagtäglich übt, dann kehrt langsam eine tiefe Zufriedenheit in uns ein und wir entkommen für einen Moment dem Diktat der Konsumgesellschaft, in der wir alle leben und die letztendlich zur Konsequenz hat, dass wir uns immer mehr von uns selbst entfernen. Darin kann uns die Natur durch ihre unendliche Großzügigkeit, Lebendigkeit und Flexibilität helfen und leiten. Wir müssen es nur zulassen und uns auf sie bewusst einstimmen.

In den folgenden Aktivitäten werden wir uns mit den einzelnen Jahreszeiten beschäftigen und dabei wird die Arbeit auf metaphorischer Ebene eine zentrale Rolle spielen. 


[1] Rilke, Rainer-Maria, Jahreszeiten, Insel Taschenbuch, Frankfurt, 2017, Seite 9
[2] Quelle : Hier (abgerufen am 11.3.2024)
[3] Frei übersetzt nach : Ducrocq, Anne, Nos saisons-Une métamorphose intérieure, La Martinière, Portugal, 2021, Seite 157
[4] Kunstkopie.de

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